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José Maurício Nunes Garcia

Musiker am Hofe Dom Joãos VI. in Rio de Janeiro

Eine der bizarrsten Episoden der europäischen Neuzeit nimmt ihren Lauf, als die mit Spanien verbündeten napoleonischen Truppen im November 1807 in Portugal einfallen. Dem Hofstaat des portugiesischen Prinzregenten Dom João VI. gelingt es in einem organisatorischen Kraftakt noch rechtzeitig, sich der Fremdherrschaft zu entziehen. Am Vorabend der Einnahme Lissabons durch die Franzosen sticht eine Flotte von 15 Schiffen samt einem 10.000köpfigen Gefolge in See und nimmt Kurs auf Brasilien. Dom João VI. verlässt seine Heimat ohne fahnenflüchtig zu werden oder dem Thron zu entsagen – den er offiziell erst 1816 nach dem Tod seiner geistig nicht mehr geschäftsfähigen Mutter Dona Maria I. besteigen wird. Genau genommen geht er nicht einmal ins Exil: Brasilien ist Teil des portugiesischen Weltreichs und soll in der Stunde der Not für das bedrängte Mutterland einspringen.

Die Braganças als Mäzene

Der aus dem Hause Bragança stammende Dom João VI. „der Gütige“ (1767-1826) ist als einer der populärsten Monarchen in die portugiesische Geschichte eingegangen. In Erinnerung geblieben ist er vor allem als liebenswerter, etwas weltfremder Regent, mit einem sprichwörtlich gewordenen Heißhunger auf gebratene Hähnchenkeulen, die er der Überlieferung zufolge in seinen weiten Rockschößen hortete. Doch verbirgt sich hinter diesem zur Karikatur geronnenen Bild auch der historisch verbürgte Liebhaber und Förderer der Künste und Wissenschaften, denen er in dem bislang vernachlässigten Brasilien zu einem ungeahnten Aufschwung verhalf. Er knüpfte damit an das traditionelle Mäzenatentum der Braganças an. Bereits Dom João IV., der Begründer der Dynastie nach der Befreiung von Spanien im Jahre 1640, war Komponist und Musikschriftsteller, baute die Musikbibliothek in Lissabon zu einer der größten in Europa aus, bis sie 1755 beim großen Erdbeben vernichtet wurde. Dom João V. „der Großmütige“ holte den italienischen Komponisten und Cembalisten Domenico Scarlatti als Kapellmeister an seinen Hof, sein Sohn Dom José I. erbaute 1755 die prächtige Oper in Lissabon, die allerdings im gleichen Jahr ebenfalls Opfer des Erdbebens wurde.

Umbruch in Brasilien

Die Verlagerung des Hofes nach Rio de Janeiro schafft praktische Notwendigkeiten, die Brasilien einen tiefgreifenden Entwicklungsschub bescheren: Öffnung der Häfen für alle befreundeten Nationen, Freigabe von Handel und Gewerbe, Erhebung Brasiliens zum Königreich, Gründung von Nationalbank, Nationalbibliothek und königlicher Buchdruckerei. Die Nichtexistenz von Druckereien vor 1808 stellt nicht nur ein Hindernis für die Erforschung der brasilianischen Geschichte vor diesem Zeitpunkt dar sondern war Ausdruck für die große Rückständigkeit des gesamten Bildungswesens in Brasilien in jener Zeit. Die portugiesische Besitzung verfügte bis dahin nicht einmal über eine Universität, im Gegensatz zu den spanischen Kolonien in der Neuen Welt, in denen bereits im 16. Jahrhundert die ersten Hochschulen gegründet wurden.

Musik in Rio de Janeiro

Bereits vor Ankunft des Prinzregenten, der nach einem Zwischenaufenthalt in Salvador da Bahia am 7. März 1808 in Rio de Janeiro eintraf, hatte ein einheimischer Tonkünstler in der Stadt an der Guanabara-Bucht auf sich aufmerksam gemacht: José Maurício Nunes Garcia, der heute als bedeutendster Komponist der brasilianischen Kolonialzeit gilt. Rio de Janeiro verfügte über eine Reihe namhafter Musiker, von denen einige aus der ehemals reichen Provinz der Minas Gerais, der „allgemeinen Minen“ übergesiedelt waren, nachdem dort die Goldadern versiegten. So verließ auch der bedeutendste Komponist des Goldzyklus, José Joaquim Emerico Lobo de Mesquita die Hauptstadt von Minas Gerais Ouro Preto – „schwarzes Gold“ – in Richtung Rio de Janeiro, starb jedoch bereits vor der Ankunft von Dom João VI.

Die Musikausübung in der Stadt konzentrierte sich vor 1808 einerseits auf die Kirchen und Klöster, andererseits auf die Theater, in denen Ouvertüren und Zwischenmusiken gespielt wurden. Von dem nach Ankunft des Prinzregenten eingetretenen Aufschwung berichten die deutschen Naturforscher Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich von Martius, die Brasilien zwischen 1817 und 1820 bereisten: Das intensive Musikleben in der Stadt habe alle anderen Künste in den Schatten gestellt.

José Maurício: Herkunft und Werdegang

José Maurício Nunes Garcia wurde am 22. September 1767 als Sohn eines Schneiders und einer freigekauften Sklavin aus Guinea geboren. Der Vater starb, als José Maurício sechs Jahre alt war und so wuchs der Knabe in bescheidensten Verhältnissen unter der Obhut der Mutter und einer Tante auf. Im Alter von 25 Jahren erhielt er die Priesterweihe. Der einzige Lehrer José Maurícios, von dem wir wissen, war Salvador José, zu seiner Zeit ein gefragter Musikpädagoge. Die mehrfach kolportierte Existenz einer von den Jesuiten auf der Fazenda Santa Cruz betriebenen Musikakademie, die nach der Ausweisung des Ordens aus Brasilien weiterbestanden haben soll, konnte hingegen nicht dokumentiert werden, ebenso wenig wie eine mögliche Unterweisung José Maurícios.

Überliefert ist jedoch der Fleiß und die rasche Auffassungsgabe des jungen Musikers, der Solvejo und Rhetorik erlernte, bald als hervorragender Prediger bekannt wurde und in seinem Haus eine Musikschule einrichtete, in der Musiker und Sänger für den Dienst an der Kathedrale von Rio de Janeiro ausgebildet wurden. José Maurício zeugte trotz seines Priesterstandes sechs Kinder, ein nicht seltenes Phänomen in dem aufgrund der kolonialen Situation im Vergleich zu Portugal permissiveren Brasilien. Auf der anderen Seite liegt es nahe, dass José Maurício die Priesterweihe als Mittel zum sozialen Aufstieg nutzte, denn andere Wege kam es für Nichtweiße kaum. 1798 wurde er Kapellmeister und Organist an der Kathedrale und war in der Bruderschaft São Pedro dos Clérigos tätig. Darüber hinaus war er Mitbegründer der örtlichen Bruderschaft von Santa Cecília.

Der portugiesische Komponist Marcos Portugal

Mit dem Eintreffen des kunstsinnigen Prinzregenten, der José Maurício zum Leiter der Hofkapelle ernennt, scheint die finanzielle und gesellschaftliche Position des Komponisten gesichert. Als jedoch drei Jahre später der portugiesische Komponist Marcos António Portugal in Rio de Janeiro erscheint, erwächst José Maurício ein ernsthafter Rivale. Die beiden Musiker verkörpern zwei gegensätzliche Welten: Hier der brasilianische Mulatte José Maurício, der seinen Geburtsort nie verlassen sollte und aufgrund seiner Hautfarbe stets um Anerkennung kämpfen musste, dort der weltgewandte, vom Erfolg frühzeitig verwöhnte Portugiese, dessen Opern bereits in den wichtigsten europäischen Musikmetropolen aufgeführt wurden. Ein zeitgenössischer Beobachter berichtete, Marcos Portugal sei „wie ein Lord, sehr hochfahrend“ aufgetreten, umgeben von seiner aus Portugal mitgebrachten Claque, die José Maurício und anderen brasilianischen Musikern das Leben schwermachten.

Aufstieg Rio de Janeiros zur Musikmetropole

Bis zur Rückkehr Dom João VI. nach Portugal im Jahre 1821 sollte die musikalische Blütezeit in Rio de Janeiro andauern, die die Stadt zu einem der wichtigsten Musikzentren der Neuen Welt beförderte: Es wurden Orchestermusiker aus Lissabon und Kastraten aus Italien herbeigeschafft, ein üppiger Titel von rund 300.000 Goldfranken jährlich kam den Aktivitäten der Hofkapelle zugute, die über 40 bis 50 festangestellte Musiker und Sänger verfügte – vorher hatte José Maurício stets Schwierigkeiten, ein funktionsfähiges Orchester aufzustellen. Nach Marcos Portugal kamen weitere renommierte Musiker an den Hof: Fortunato Mazziotti, der ab 1816 an der königlichen Kapelle wirkte sowie der Salzburger Haydn-Schüler Sigismund Neukomm, der zum höfischen Musiklehrer ernannt wurde. Seine Korrespondenz mit der Wiener Allgemeinen Musikalischen Zeitung ist eine wichtige Quelle für die Zustände am Hof. Durch Neukomm wissen wir auch von der regen Dirigiertätigkeit José Maurícios, der die Schöpfung von Haydn und Mozarts Requiem aufführte.

Musiktheater

Der Prinzregent ließ 1813 ein Opernhaus nach Lissabonner Vorbild errichten, das „Real Teatro de São João“ – wo sich heute das „Teatro João Caetano“ befindet -, in dem der im Idiom der Opera buffa und seria bewanderte Marcos Portugal seine ersten Triumphe in Brasilien feierte. Neben eigenen Werken führte Portugal Opern von Salieri, Mozart und Rossini auf. Auch José Maurício versuchte sich in dem fremden Genre und schrieb die Oper „Le due gemelle“, deren Partitur jedoch verschollen ist. Marcos Portugal wusste jedoch sein Revier energisch und nicht frei von Intrigen gegenüber José Maurício zu verteidigen, so dass sich dieser entmutigt auf sein eigentliches Metier, die sakrale Musik, zurückzog. Aus seinem profanen Werk hat, neben einigen volkstümlichen „Modinha“-Liedern, einzige die Ouvertüre zur Oper „Zemira“ einen bescheidenen Bekanntheitsgrad erringen können. Doch schlägt sich der Einfluss des italienischen Stils auch in einigen seiner geistlichen Werke nieder, etwa in seiner Weihnachtsmesse „Missa pastoril para a noite de Natal“ aus dem Jahre 1811.

Musica sacra

José Maurício schrieb an die 400 Werke, von denen nach dem Katalog der Musikwissenschaftlerin Cleofe Person de Mattos 237 erhalten und erfasst sind. Darunter befinden sich nur fünf profane Stücke. Die erste überlieferte Komposition, die Antiphon „Tota pulchra est Maria“ stammt aus dem Jahre 1783, José Maurício hatte also bereits mit 16 Jahren begonnen zu komponieren. Den Höhepunkt seines Schaffens stellt das Requiem aus dem Jahr 1816 dar, ein Auftragswerk von Dom João VI. anläßlich des Todes seiner Mutter Dona Maria I. Im Übrigen hat José Maurício kaum ein Genre der Musica sacra ausgelassen: Messen, Hymnen, Motetten, Litaneien, Psalmen, Sequenzen. Nach der Rückkehr Dom Joãos VI. nach Portugal geht die intensive Musikpflege am Hofe ihrem Ende zu und auch José Maurícios kompositorische Produktivität geht zur Neige. Sein letztes überliefertes Werk ist die „Missa de Santa Cecilia“ aus dem Jahre 1826.

Musik in den königlichen Salons

Der Prinzregent, der sich gerne mit Musikern umgab, pflegte seine musikalischen Vorlieben auch in seiner Residenz „Quinta da Boa Vista“, wo sich heute das Nationalmuseum von Rio de Janeiro befindet. Marcos Portugals Opera buffa „A Saloia namourada“ wurde dort aufgeführt.

Carlota Joaquina, die launische und rüpelhafte Gemahlin Dom João VI., liebte es, die Musiker des Hofes gegeneinander auszuspielen, ihnen unvermutet aus Europa eingetroffene Partituren vorzulegen. Der gehemmte José Maurício wusste sich durch sein makelloses Prima-vista-Spiel stets bravourös aus der Affäre zu ziehen und verblüffte auch seinen Rivalen Marcos Portugal durch seine atemberaubende Improvisationskünste auf dem Cembalo und dem Pianoforte. Sigismund Neukomm bezeichnete José Maurício als „größten Improvisator“ der Welt. Seine Virtuosität fachte die Feindschaft von Marcos Portugals Kamarilla noch zusätzlich an, die bereits einen anderen brasilianischen Komponisten, Damião Barbosa de Araújo, aus der Hofkapelle „hinausgemobbt“ und zur Rückkehr in seiner Heimatstadt Salvador bewogen hatte.

Lehrtätigkeit

José Maurício begann seine Lehrtätigkeit in der eigenen Musikschule in der Rua Marrecas, wo er in der ersten Zeit in Ermangelung eines Tasteninstrumentes auf einer „viola-de-arame“, d.h. auf einer mit Metallsaiten bezogenen Gitarre unterrichtete. Einer seiner Schüler war Francisco Manuel da Silva, der spätere Schöpfer der brasilianischen Nationalhymne und Gründer des Konservatoriums von Rio de Janeiro. Erst als José Maurício Privatstunden in den Häusern der Oberschicht zu erteilen begann, bekam er Gelegenheit, die für ihn vorerst unerschwinglichen Cembali und Spinette gründlich kennenzulernen. Nach seinem Aufstieg zum Hofmusiker erreichte sein Spiel die von den Zeitgenossen attestierte Perfektion. 1821 schließlich veröffentlichte er sein „Compêndio de Música e Méthodo de Pianoforte“, das erste didaktische Werk für Klavier, das in Brasilien entstand.

Die ersten Cembali kamen bereits frühzeitig nach Brasilien, ebenso einige Orgeln. Erste einheimische Instrumentenbauer wirkten in der Bischofsstadt Olinda, später auch in Rio de Janeiro. Das Pianoforte tauchte erst Anfang des 19. Jahrhunderts in Rio de Janeiro auf, wobei zunächst Instrumente aus Großbritannien importiert wurden, das mit seinen Produkten den portugiesischen Markt beherrschte. Aufgrund der für koloniale Gesellschaften typischen Überlappung verschiedener Epochen – die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ – wurden jedoch bis weit ins 19. Jahrhundert von Musikgeschäften neben Klavieren auch noch Cembali angeboten.

„Méthodo de Pianoforte“

José Maurício hatte sich sowohl mit dem Cembalo als auch mit dem Pianoforte vertraut gemacht. Es ist anzunehmen, dass seine eindrucksvolle Tätigkeit als Virtuose zur Verbreitung des Pianoforte innerhalb der Oberschicht in Rio de Janeiro beitrug. Unter dem Titel „Compêndio de Música e Méthodo de Pianoforte do Snr. Pe. Me. Jozé Maurício Nunes Garcia“ veröffentlichte er 1821 sein Lehrwerk, dass er seinen Söhnen „Dr. Jozé Maurício“ und „Appollinário“ widmete. Da das Werk im Jahr der Rückkehr des Königs nach Lissabon herausgegeben wurde, liegt die Vermutung nahe, dass sich José Maurício durch den Ausfall der königlichen Kompositionsaufträge in der Notwendigkeit sah, ein Schubladenprojekt zu verwirklichen. Nicht nur die Tatsache, dass der „Méthodo“ für Brasilien eine Neuheit darstellte, macht das Werk interessant. In stark gedrängter Form erkennt man die stilistischen Eigenheiten des kompositorischen Schaffens José Maurícios sowie einige von ihm verarbeitete Einflüsse wieder. In den 24 „Lições“ (Lektionen) und 6 „Fantezias“ gibt es eine Reihe von Zitaten fremder und Reduktionen eigener Werke, so aus Rossinis Ouvertüre zum „Barbier von Sevilla“, aus Haydns Schöpfung und dessen „Paukenschlag“-Sinfonie Nr.94. Formal dominiert die zwei- und dreiteilige Liedform, das Rondo und die da-capo Arie. An einigen Stellen ist der Charakter der „Modinha“ unverkennbar, des brasilianischen „Liedes“.

Lebensabend und Tod

José Maurício geriet bereits kurze Zeit nach dem Weggang des Königs im Jahre 1821 in Vergessenheit. Seine Musikschule muss er 1822 aus finanziellen Gründen aufgeben. Dom Pedro I., der erste Kaiser des in diesem Jahr unabhängig gewordenen Brasilien, strich José Maurícios noch von Dom João VI. gewährte Pension. Wie ein Menetekel wirkt da der Brand, der die Oper im Jahre 1824 zerstört. Am 18. April stirbt José Maurício in Armut und wird in der Kirche der Bruderschaft von São Paulo bestattet. Die genaue Grabstätte kann jedoch heute nicht mehr lokalisiert werden.

Rezeption des kompositorischen Werkes

Der Politiker und Schriftsteller Visconde de Taunay setzte sich ab 1895 publizistisch für das Werk des Komponisten ein. Mário de Andrade, führender Kopf des „Modernismo“ der 1920er Jahre, lobt José Maurício als „größten Komponisten unserer geistlichen Musik“. Auch der Komponist Alberto Nepomuceno bemüht sich, José Maurícios Werke wieder ans Licht zu bringen, so das Requiem. Die übrigen Partituren, so klagte Mário de Andrade noch 1944, „wurden von den Motten verzehrt oder liegen weiter nutzlos in den Archiven herum“.

In den letzten Jahren erfährt das Werk von José Maurício wieder stärkere Beachtung. Nach der Maßstäbe setzenden Arbeit der Musikwissenschaftlerin Cleofe Person de Mattos, die sein Werk katalogisierte und eine Monographie über den Komponisten verfasste, sind es vor allem musikwissenschaftlich beschlagene Musiker der jüngeren Generation, die das Werk José Maurícios wiederentdecken und zur Aufführung bringen, so der Cembalist Marcelo Fagerlande, der Sänger Luiz Alves da Silva oder der Chorleiter Sérgio Dias. Hinzu kommen Einspielungen seiner wichtigsten Werke, die ein – auch außerhalb Brasiliens – wachsendes Interesse an diesem für die Kulturgeschichte Lateinamerikas höchst bedeutenden Komponisten belegen.

Manuel Negwer   (zuerst in CONCERTO Nr. 128 / November 1997)