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Abel Fleury

Gitarrenpoet aus der Pampa

Argentinien, das Land am Silberfluss „Rio de la Plata“ – entgegen dieser Bezeichnung ein Gebiet mit allenfalls kümmerlichen Silber- oder Goldvorkommen -, galt lange Zeit als verlorener Außenposten des spanischen Kolonialreiches. Nicht von ungefähr musste zum Aufbau der bereits 1536 gegründeten Stadt Buenos Aires 1580 ein neuer Anlauf genommen werden. Die ersten Conquistadores hatten angesichts des grimmigen Empfangs durch die einheimischen Querandí-Indianer nach dem ersten Versuch das Hasenpanier ergriffen.

Während in den Residenzstädten Lima und Mexiko bereits im 16. Und 17. Jahrhundert ein beachtliches kulturelles Leben aufblühte, literarische und  musikalische Werke entstanden sowie eine prächtige Kolonialarchitektur von dem imperialen Glanz der spanische Herrschaft kündete, blieb Buenos Aires lange Zeit ein obskures Schmugglernest, in dem sich sogar die vor der spanischen Inquisition geflüchteten Juden vor weiterer Verfolgung sicher wähnen konnten. Erst allmählich kristallisierte sich eine eigenständige argentinische Identität heraus und schließlich führte General San Martín, nach dem siegreich gegen die Spanier beendeten Freiheitskrieg, das Land 1816 in die Unabhängigkeit.

Der Tango – der ‚Blues‘ der Vorstädte

Das karg bewachsene, landschaftlich reizlose Land um Buenos Aires erfuhr erst mit Einführung der Viehwirtschaft – die feuchten ebenen „Pampas“ erwiesen sich als ideales Weideland – einen nennenswerten wirtschaftlichen Aufschwung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – der von Großbritannien forcierte Kapitalismus holte inzwischen auch nach Südamerika aus – wurde Buenos Aires zum Ziel eines Massenzustroms von Einwanderern aus den Armutsgebieten Spaniens und Italiens. So ist Argentinien noch heute – ähnlich wie das benachbarte Uruguay – die einzige lateinamerikanische Nation, deren Bevölkerung zu über 90% aus Europa stammt.

Buenos Aires wurde zum Schmelztiegel der sich in eilends hochgezogenen Notquartieren drängenden Einwanderer. Hier, in den ärmlichen Vorstädten und trostlosen Kaschemmen der sich ins Hinterland ausdehnenden Millionenmetropole, entstand der Tango als erste Erscheinungsform der argentinischen Populärkultur. In seinen melodramatischen Texten, in denen es um betrogene Liebhaber und im Rotlichtmilieu zugrunde gehenden Mädchen ging, verleiht der Tango der Einsamkeit der in ihrer Mehrzahl männlichen Emigranten Ausdruck.

Hinzu kamen ländlichen Musikformen, die sich über Dutzende von Generationen hindurch aus ihren spanischen Ursprüngen an ihr Umfeld angepasst hatten. Der Malambo etwa, ein mit virtuosen Stiefelschritten ausgeführter Duelltanz der Gauchos, weist mit seinem raschen 6/8-Takt eine verblüffende Verwandschaft zu dem altspanischen Canarios auf, der u.a. von Gaspar Sanz im Barock verarbeitet wurde., aber auch zum andalusischen Zapateado. Die Milonga wiederum, ein von dem afrikanisch stärker beeinflussten Nordufer des Río de la Plata – dem heutigen Uruguay sowie dem brasilianischen Rio Grande do Sul – herrührenden synkopierter Rhythmus, lieferte das musikalische Fundament für den oft improvisierten Gesang der mit den Bänkelsängern vergleichbaren Payadores, der in der Art der altspanischen Romanzensänger von bemerkenswerten Geschehnissen kündete, zur Gitarre gesungen und mitunter in Art eines Wettgesanges mit einem zweiten Sänger dargeboten wurde. Der berühmteste und schlagfertigste Payador war Gabino Ezeiza (1858-1916), der seine zumeist kaum weniger beschlagenen Gegner zu nicht selten tagelangen Wettkämpfern herausforderte. In Argentinien findet man die gemächlichere ländliche Milonga campera sowie die in den Vorstädten von Buenos Aires gespielte Milonga orillera vor, die dynamischer gespielte wird, schon sehr an den Tango gemahnt und in den Tango milonga übergeht. In seiner schnelleren, oft rein instrumental gespielten urbanen Version wurde die Milonga zu einer Art „kleinen Schwester“ des Tango und gehört bis heute zum Standardrepertoire in den „Milongas“ – wie die entsprechenden Tanzlokale auch genannt werden.

Das spanische Erbe

Durch die starke hispanische Prägung der argentinischen Bevölkerung orientierte sich die argentinische Gitarristik von Anbeginn an eng am spanischen Kanon. Es entstand in Buenos Aires – gegründet von dem aus dem nordspanischen Bilbao stammenden Hilário Leloup – eine Tárrega-Akademie. Der Spanier Domingo Prat wurde zu einer zentralen Figur der jungen Gitarrenszene des Landes, unterrichtete u.a. die spätere „Große alte Dame“ der argentinischen Gitarre María Luisa Anido, die sich danach bei Miguel Llobet weiterbildete. Mit seinem „Diccionario de guitarristas“ unternahm Prat 1936 den Versuch einer Bestandsaufnahme der Gitarristik insbesondere in Argentinien.

Der am 5. April 1903 in der 180km südlich von Buenos Aires gelegenen Kleinstadt Dolores geborene Abel Fleury gehörte zu den jungen Gitarristen, die mit Prat in Berührung kamen und zeitweise von ihm Unterricht erhielten. Anders jedoch als María Luisa Anido, das Gitarrenduo Graciela Pomponio und Juan Martínez Zárate oder die dem folkloristischen Erbe folgenden Meister Atahualpa Yupanqui und Eduardo Falú wurde Fleury außerhalb seines Heimatlandes kaum zur Kenntnis genommen. Der zeitlebens zurückhaltend und bescheiden auftretende Musiker unternahm nur wenige Auslandsreisen, die ihn 1948 nach Brasilien und 1952 nach Europa führten. Dabei ist Fleury – über seine herausragenden Qualitäten als Konzertgitarrist hinaus – der erste wichtige, auch stilbildende Gitarrenkomponist Argentiniens und hat mit seinem nicht sehr umfangreichen, in der Folklore wurzelnden Œuvre das Repertoire seines Instrumentes um einen unverkennbar argentinischen Beitrag bereichert.

Der Weg zur Komposition

Nachdem Fleury etwa 20 eher ereignisarme Jahre in seiner provinziellen Heimatstadt verbrachte, bricht er Mitte der 20er Jahre in das mondäne Seebad Mar del Plata an der Atlantikküste auf, wo er sich als Gitarrelehrer niederlässt. Mit seinen Lieblingsschülern veranstaltet er in regelmäßigen Abständen die „Fiestas de la Guitarra“, auf denen er zunächst ein an Tárrega und Llobet orientiertes Repertoire darbietet, wie ein Programmheft aus dem Jahr 1927 belegt. Erst als sich Fleury in das abgelegene Tandil im Süden der Provinz Buenos Aires zurückzieht, findet er die nötige Ruhe, um sich seinem kompositorischen Schaffen zu widmen. In dem Dichter Lauro Viana trifft Fleury zudem auf einen Geistesverwandten, mit dem er einige Lieder schreibt, so „Pico blanco“, das von dem Sänger Angel Vargas aufgeführt wird. Überliefert ist neben der Literatur die Leidenschaft Fleurys für Fußball und Schach. So komponierte er für den Fußballklub „Atlético Huracán“ aus der benachbarten Kleinstadt Tres Arroyos den – leider verlorengegangenen – Tango „Huracán“ (= Hurrikan). Überliefert ist dagegen der Verlauf der Schachpartie, in der Fleury 1945 den damaligen Schachchampion Jacobo Bolbochán bezwang, nachdem Fleury bereits Jahre zuvor die argentinischen Jugendmeisterschaften gewonnen hatte.

In Gitarristenkreisen werden die Werke Fleurys rasch bekannt. So wird die Komposition Milongueo del Ayer zu einem Klassiker der lateinamerikanischen Gitarrenliteratur und kann in seiner Machart als repräsentativ für das Werk Fleurys gelten: Verzicht auf virtuose Girlanden, formale und thematische Geschlossenheit, ebenso ökonomische wie wirkungsvolle Nutzung der idiomatischen Möglichkeiten des Instrumentes. In dieser Art entstanden einige Dutzend, auf einheimischen Tänzen und Liedformen fußenden Miniaturen, deren Dauer 3-4 Minuten nicht überschreitet und die in ihrem melodischen und rhythmischen Einfallsreichtum von geradezu klassischer Schönheit und Eleganz sind. Als erstem Gitarristen seiner Heimat gelingt Fleury damit auf überzeugende Weise der Brückenschlag zwischen Populär- und Kunstmusik. Keineswegs dürfen diese auf den ersten Blick übersichtlich und eingängig wirkenden Werke unterschätzt werden. Eine ausgefeilte Rhythmik geht Hand in Hand mit anspruchsvollen technischen Mitteln. Vordergründige Virtuosität wird nicht angestrebt, spieltechnische Schwierigkeiten werden jedoch nicht umgangen.

Unter den Rhythmen, die Fleury für seine Kompositionen verwendet, dominiert die Milonga. Den ebenfalls in der Provinz Buenos Aires beheimateten Malambo verwendet er dagegen nur einmal. Musikformen des Landesinneren wie die Cueca des Grenzgebietes zu Chile sowie die Chacarera aus dem Nordwesten und der Chamamé aus dem Nordosten tauchen ebenfalls nur je einmal auf.

Übersiedlung nach Buenos Aires

Auch in Tandil organisiert Fleury Gitarrenkonzerte und baut ein Gitarrenorchester auf. Als der spanisch Gitarrist Francisco Calleja im Jahre 1931 nach Tandil kommt, organisiert Fleury ein Konzert für ihn, an dem er selbst mit seinen Schülern teilnimmt. Auftritte absolviert Fleury auch in anderen Provinzstädten der Region – seinerzeit ein mühseliges Unterfangen, bestanden die Verkehrsverbindungen größtenteils aus im Sommer staubigen und während der Regenzeit im Schlamm versinkenden Pisten. 1933 schließlich zieht es Fleury in die Hauptstadt Buenos Aires, wo er mit dem Schauspieler und Rezitator Fernando Ochoa bei Rundfunkproduktionen und Lesungen zusammenarbeitet, indem er ihn auf der Gitarre begleitet.

Rasch macht sich Fleury in der anspruchsvollen Musikszene der Hauptstadt einen Namen. Er greift die Idee der Gitarrenensembles wieder auf, stellt zumeist aus etwa zwölf Musikern bestehenden Gitarrenchöre zusammen, mit denen er konzertiert. 1939 tritt er mit einer monumentalen Gruppe von 100 Gitarristen im traditionsreichen Teatro Colón auf. Zu dem Musikern, mit denen Fleury zusammenarbeitet, zählte nicht nur der Komponist der „Suite Americana“ Héctor Ayala sondern auch der renommierte Tango-Gitarrist Roberto Grela, der eine Zeitlang den erfolgreichen Sänger Charlo begleitete.

Seine Zusammenarbeit mit Tangomusikern intensiviert sich zusehends, so mit dem Sänger Ignacio Corsini, der noch mit Carlos Gardel befreundet gewesen war. Die hohe Wertschätzung, die Fleury im musikalischen Milieu genoss, zeigte sich, als Musiker vom Rang des Bandoneonisten Pedro Maffia sowie des Pianisten Sebastián Piana ihn 1941 einladen, gemeinsam mit ihnen und dem Kontrabassisten Angel Corletto das „Cuarteto Popular Argentino“ zu gründen. Maffia gehörte – trotz seines wenig vertrauenerweckendes Familiennamens – zu den wichtigsten Tangoorchesterleitern und erhielt 1954 den neu eingerichteten Lehrstuhl für Bandoneon am städtischen „Manuel de Falla“-Konservatorium von Buenos Aires. Piana war insbesondere als Milonga- und Tangokomponist sehr erfolgreich.

Gastspiele im Ausland

Ende der 40er Jahre bricht Fleury – das „Cuarteto Popular Argentino“ existiert zu diesem Zeitpunkt nicht mehr – zu Konzertreisen ins Ausland auf, zunächst nach Brasilien, wo er in São Paulo seinen aus Uruguay nach Brasilien emigrierten Freund Isaías Savio wiedertrifft, der zum wichtigsten Gitarrepädagogen Brasiliens avanciert. Auch schließt er Freundschaft mit Dilermando Reis, einem der damals populärsten Choro- und Valsa- Gitarristen.

Anfang der 50er Jahre unternimmt Fleury eine einjährige Tournee, die ihn nach Frankreich, Belgien und Spanien führt. In Spanien lernt er Daniel Fortea kennen, neben Emilio Pujol und Miguel Llobet einer der profiliertesten Schüler Francisco Tárregas, sowie Regino Sainz de la Maza, der sich über die schwere Spielbarkeit von Fleury Gitarre mokiert. In Valencia schreibt der Musikwissenschaftler und Kritiker López Chavarri einen enthusiastischen Artikel, in dem er Fleury Vortrag mit dem Tárregas vergleicht.

Und in der Tat muss Fleury, auf seine stille und unaufdringliche Art, sein Publikum stets fasziniert und schnell erobert haben.: Kein Geringerer als Andrés Segovia lobte bereits 1928 anlässlich eines Konzertes in der argentinischen Provinzstadt Tres Arroyos die Qualitäten des Gitarristen Fleury, hebt die „Tragfähigkeit und Reinheit“ seines Tones hervor. Der Musikkritiker Fernán Félix de Amador nannte Fleury „Poet der Gitarre“ und der uruguayische Gaucho-Dichter Yamandú Rodríguez charakterisierte den Musiker folgendermaßen: „Er verbreitet großzügig die musikalische Saat seiner Lieder, hält mit den Bächen und den Bäumen Zwiesprache und entfernt sich einsam, in der unendlichen Weite der klingenden Nacht der Pampa.“ Lauro Viana schließlich preist sein Spiel mit salbungsvollen Worten: „Er nennt eine ökumenische Gitarre sein eigen, die sich mit Beethovenschen Akkorden Mut macht, mit Bach auf klaren Gewässern dahineilt, an die Nebel Griegs gemahnt und sich traurig mit einem Poncho verhüllt, wie der Gaucho in der Abenddämmerung, der eine heimische Weise anstimmt.“

Seine späte internationale Anerkennung konnte Fleury weder ausbauen noch lange genießen. Nach letzten Auftritten in seinen alten Wirkungsstätten Tandil und Mar del Plata, stirbt Abel Fleury unerwartet am 9. August 1958 in Buenos Aires. Obwohl der stets die Öffentlichkeit scheuende Musiker in der brodelnden Metropole schnell vergessen wird, ist das Interesse an seinen Werken nie ganz erloschen. Sogar bis ins sibirische Tomsk waren die argentinischen Weisen Fleurys gedrungen und von dem an der dortigen Musikschule tätigen Gitarristen Arsenij Popow auf den Lehrplan gesetzt worden. Durch das Internet erlebten Fleurys Werke in jüngster Zeit eine späte Wertschätzung auch außerhalb seiner Heimat.

Manuel Negwer  (zuerst in ZUPFMUSIKmagazin 2/1998)